Von der Rolle des Zufälligen
Wie Bilder entstehen
Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann habe ich als Kind beim obligatorischen Mittagschlaf nie ein Auge zugemacht. Ich schaute auf den rissigen Kalkputz der Zimmerdecke und sah immer neue Bilder, Ereignisse und Geschichten. Gespenster, Monster und wilde Tiere kamen zum Vorschein, absurde Szenen und komische Fratzen waren lustig. Spannend war es immer. Es war nicht leicht, die einmal ausgemachten Bilder beim nächsten Mal wieder hervorzurufen. Alles war immer wieder anders.
Ein Geschenk der Langeweile . . .
Das kennt wohl jeder: fast zwanghaft versuchen wir in Wolkenformationen und auf einer zerkratzten Tischplatten Bedeutung zu entdecken. Jeder wird aber in dieselben Zeichen und Strukturen Unterschiedliches hineinlesen. Projektionen seiner inneren Bilder, Wünsche, Erinnerungen, Déjà-vus, Obsessionen und Ängste.
Bilder suchen . . .
Ich bin kein Fotograf im herkömmlichen Sinn. Ich benutze (digitale) Fotos als Ausgangsmaterial, um Bilder zu machen. Anfänglich waren es Naturfotos, oftmals Close-Ups von Pflanzlichem. das Werden und Vergehen in seiner ambibvalenten Schönheit zeigte. Schnell wurde mir klar, dass alles in die Sackgasse einer ewigen Suche nach geeigneten Motiven münden würde. Ich fühlte mich in meiner gestalterischen Freiheit eingeengt. Daher begann ich – ohne bildnerische Absicht – meine Fotos am Computer zu überlagern, zu überblenden, zu collagieren, sie digital durchzukneten.
. . . oder Bilder finden
Ich spiele mit ihnen wie die Katze mit der Maus. Erst wenn die so entstehenden Zufallsprodukte suggestiv und fruchtbar werden, meine Assoziationen und Fantasie befeuern, greife ich bewusst ein und bringe die Bilder zu einem (vorläufigen) Abschluss. Mittlerweile sind mir alle fotografischen Sujets als Ausgangspunkt für meine Bilder gleich willkommen, ob scharf oder verwischt fotografiert: meine Archive sind gefüllt mit belanglosen und fotografisch uninteressanten Fotodateien. Denn alles kann zu allem werden und Bedeutung erlangen.
Wege der Bildfindung
Max Ernst über seine Frottagen: “Auf dem Fussboden gab es ein Parkett, das durch die vielen Schrubbereien sehr deutlich geworden war. Die Strukturen waren sehr sichtbar geworden. Und das übte auf meine Netzhaut einen gewissen Einfluss aus. Ich merkte plötzlcih, dass sich daran gewisse Visionen anknüpften und ich wollte diesen Visionen nachgehen. [ … ] Ich legte auf den Boden ein paar Blätter weisses Papier und kratzte darüber mit einem Bleistift. Da kamen die Maserungen sehr deutlich zum Vorschein. Und, was sah ich da? Ich sah plötzlich in diesen Maserungen Dinge, die ich nie geahnt hatte.”
Mein Bleistift, Papier und Parkettfussboden sind die digitalen Fotomanupulationen, mit denen sich neue Bildgründe erzeugen lassen, die sich mit Pinsel und Farbe nicht aufgetan hätten. Wer sich bei den zeitgenössischen Kunstproduktionen umsieht, wird häufig den Eindruck haben, dass die Bilder in Photoshop entworfen sind und anschliessend mit Pinsel und Farbe nachgemalt wurden. Ähnlich wie manches Malergenie im 19. Jahrhundert gerne nach fotografischen Vorlagen arbeitete. Nur zugeben mochten die meisten das nicht.
Es ist ein bewusster Schritt, auf Kontrolle zu verzichten, dem Zufall Raum zu geben, damit etwas Unerwartetes passieren kann.
Sich von zufälligen Strukturen inspirieren zu lassen, ist keine Eingebung der Moderne. Schon Leonardo wies darauf hin, dass, wenn man offen genug sei, sich Figuren, Landschaften, sogar ganze Schlachten in Steinen, Wolken oder im Schlamm erkennen lassen. Das könne für den Künstler sehr hilfreich sein.
Zur Methode wurde das Zufallsprinzip dann im 20. Jahrhundert. Vor allem in der Musik (John Cage), aber auch in der bildenden Kunst bei z.B. Duchamp. Das Bestreben war, das Werk von der Subjektivität des Künstlers – seinem Geschmack, seiner Handschrift – zu befreien. Kunst sollte quasi das Resultat einer objektiven Versuchanordnung sein, bei dem auch der Geschmack und die Vorlieben des Betrachters/Zuhörers keine grosse Rolle mehr spielen. Gerhard Richter verlässt sich in seinen mit dem Rakel (und ohne Pinsel) gemachten Bildern darauf, dass “die Bilder klüger sind’ als er selbst, “dass etwas zum Vorschein kommt, was ich nicht hätte konzipieren können.” Die Arbeit mit Rakeln erlaubt keine vollständige Kontrolle der entstehenden Strukturen. Das ist es gerade, was Richter interessiert. “Was von meiner Rolle als Künstler bleibt. ist die Entscheidung, wann es zu Ende ist.”
Abstraktion oder Abbild visueller Wirklichkeit?
Durch das digitale Spiel mit Fotografien, das ich zu Anfang fast blind in Gang setze, entsteht zunächst ein abstrakter Bildgrund, der nicht mehr als Abbild einer visuellen Realität zu lesen ist. Die Identität der fotografischen Vorlagen ist weitgehend zerstört. Die zufällig entstehenden Strukturen beziehen ihre Eigentümlichkeit aber von den fotografischen Vorlagen; die Abstraktionen unterscheiden sich wesentlich von denen eines Mondrians beispielweise, oder von der Abstraktion der Rakelbilder von Gerhard Richter.
“Meine” Strukturen sind eben spezifisch für meine Methode, Fotografien digital zu bearbeiten und können nicht mit anderen Mitteln erzeugt werden. Wie abstrakt sie auch sein mögen, sie lassen doch etwas von der fotografierten Gegenständlichkeit erahnen und bleiben ihr verpflichtet. Ich experimentiere und manipuliere solange, bis die Bildgründe und optischen Zwischenfälle reif sind für meine bildnerische Einbildung. Dann probiere ich sie mit vorsichtigen Andeutungen oder auch massiveren Eingriffen wieder mehr an die visuelle Realität anzubinden, indem ich Elemente und fragmentarische Abbilder der sichtbaren Welt hinzufüge. Wenn das gelingt, dann bleiben die Bilder suggestiv und ambivalent, aber nicht im Ungefähren hängen. Ich bin der sichtbaren Welt so sehr verfallen, dass ich von der reinen Abstraktion nicht satt werden kann. Sogar der abstrakte Mondrian malte mehr oder weniger verstohlen hinter den Stellwänden seines Ateliers Amaryllissen. Malewitsch wollte sein schwarzes Quadrat als Fenster zum Nachthimmel, zum Kosmos verstanden wissen.
Meine Bilder sind vorläufig, in dem Sinne, dass eine abgeschlossene Arbeit viele andere Möglichkeiten, die im Material verborgen sind, ausschliesst. Ich hoffe im Übrigen, dass die Bilder dem Betrachter genügend Freiraum für eigene Assoziationen und Projektionen lassen. Um Paul Klee zu zitieren: “Die Unterschriften [Bildtitel] weisen nur in eine von mir empfundene Richtung. Es bleibt Ihnen überlassen, sie anunehmen oder abzulehnen und eigene zu versuchen.”